Wir schreiben das Jahr 2006, gegen 21 Uhr. Wir stehen vor der Tür des alten Kurzwarenladens Mier im Westend. Wir klopfen mit Bedacht. Eine Frau öffnet einen kleinen Spalt. “Zwei Mal auf den Namen Sebek”, flüstere ich ihr zu. Kurzes Zögern, dann sind wir drin. Alles ist weiß eingedeckt. Kleine Lichtkegel von Kerzenschein clustern den rundum holzvertäfelten Raum. Es hat ein bisschen was von einer geheimen Zusammenkunft à la Club der toten Dichter. Ich spreche deutlich, aber doch latent im Flüsterton. Nach einem Glas Wein ist es soweit: Die Türe zum Keller öffnet sich. Ein Raunen geht durch die Gäste. Der Koch des Marais Soir serviert den ersten Gang.
“Es war illegal, aber sehr schön – wie so vieles”, erinnert sich Alexandra Baumann, eine von drei Gründerinnen des Marais. „Wir hatten zu Beginn keine Abendlizens. Deshalb haben wir zunächst nur mittags Essen gemacht. Aber dann hatten wir plötzlich die Idee, einmal im Monat das Marais Soir zu veranstalten und auch abends zu kochen. Es war wundervoll.” Einziger Wermutstropfen bei all den schönen Erinnerungen: “Wir mussten dafür leider auch eine satte Strafe zahlen”, fügt Barbara Schedel hinzu, die zusammen mit Alexandra das Marais vor über elf Jahren eröffnete.
So unkonventionell wie die Geschichte des Ladencafés Marais im Westend begann, so außergewöhnlich und zwanglos wirkt es auch heute noch. Während heute Shabby Chic und Vintage angesagte und nachahmenswerte Einrichtungsstile geworden sind, ist hier alles original. Das Restaurant befindet sich in einem ehemaligen Kaufhaus für Textil- und Kurzwaren, dass um 1900 eingerichtet wurde. Die Geschichte ist spürbar. „Das hier ist halt ein bisschen altbacken, aber echt,“ findet Barbara. „Durch die alte Ladeneinrichtung fühlen sich die Menschen hier wie in einem Wohnzimmer. Manche Gäste bleiben den halben Tag hier und lassen einfach die Atmosphäre wirken.” Neben den drei Gründerinnen sorgen fünf Angestellte für das Wohl der Gäste: Rosario und Dagmar im Service, ein französischer Koch und eine Küchenhilfe in der Kochstube und ein eigener Bäcker für die Kuchen und Backwaren. Alles wird selbst gemacht.
Als die drei Gründerinnen den Pachtvertrag erhalten, arbeiteten sie noch als Schneiderinnen im Kostümwesen der Oper. “Wir hatten den Traum, noch etwas anderes zu machen, als im Unsichtbaren an der Oper zu walten“, sagt Alexandra. Ihre gemeinsame Vision: Einen Laden eröffnen, wo sie selbstgemachte Sachen wie Handtaschen und Raritäten von Flohmärkten verkaufen – und vielleicht Gastronomie anschließen können. Der Traum ist mittlerweile Realität geworden, aber Zeit für Eigenkreationen wie Handtaschen bleibt ihnen keine. Zusammen mit ihren beiden Servicekräften bewirten sie ihre Gäste immer noch persönlich, weil sie der Überzeugung sind, dass sie nur so ihrem Anspruch gerecht werden können. “Man muss einfach selbst präsent sein, sonst ist das einfach nicht so, wie man das gerne hätte“, findet Barbara. “So, wie wir es machen, kann man es eben nicht immer auf andere übertragen. Es braucht unsere Präsenz, wenngleich jede Servicekraft etwas Eigenes mitbringt. Nur diese Mischung macht das Besondere.“
Diese persönliche Note macht das Marais zu etwas Außergewöhnlichem, das man in München nicht häufig vorfindet. Die menschliche Nähe, das Verbindliche, aber auch das Bodenständige stehen für das Marais wie auch für das Westend selbst. Das ehemalige Glasscherbenviertel hat sich seinen dörflichen Charakter bewahrt. Die Menschen kennen sich. Es wird viel geredet, aber es hilft auch immer jemand, wenn im Marais Arbeiten anstehen. “Alle Handwerker sind auch meist Stammgäste. Ein Anruf genügt und sie kommen sofort”, freut sich Barbara.
Für Barbara steht das Westend für Vielfalt: “Ich finde es schön bunt. Wir sind selbst Arbeiter und kommen aus Arbeitervierteln. Das macht den Unterschied zu vielen anderen Restaurants.” Genossenschaftswohnungen verhindern eine Gentrifizierung, wie sie in vielen anderen Münchner Vierteln befürchtet werden. Sie sorgen für eine ausgewogene Mischung von einfachen Arbeitern und Besserverdienenden – Werte, für die das Marais und das Westend gleichermaßen stehen.
Die Augen der Geschäftsführerinnen funkeln immer noch, wenn sie von der Arbeit sprechen. Barbara: “Wenn die Gäste glücklich und zufrieden sind, und es ihnen geschmeckt hat, dann ist das einfach ein tolles Gefühl.” Das Einzige, das sie sich wünschen würden: “Noch mehr Gäste”, sagt Alexandra. “Wenn es brummt, ist es am Schönsten. Das ist wie Tanzen.”